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Zeitzeugenbericht Pionierhaus 1966-69 PDF Drucken

1968: Frau Hohmann schaut aus ihrer neuen DachwohnungEin Zeitzeugenbericht von Marianne Elke Hohmann

In der Turmwohnung ( Winter 1968)

Der Wind wühlt in den Bäumen
und bläht sich auf zum Sturm,
ich wohne bei den Eulen,
dicht unterm Turm.

Und in den alten Balken,
da nagt der Zahn der Zeit
Er ist nicht aufzuhalten,
er liebt die Ewigkeit.

Und während ich so sinne,
bedenke ich das Jahr
da kriecht mir eine Spinne,
durch das offene Haar.

 

Frau Hohmann 2017Als ich meine Tätigkeit im Pionierhaus als stellvertretende Hausleiterin begann,  war ich dreiundzwanzig Jahre alt und im dritten Monat schwanger. Zu dieser Zeit befand ich mich im Fernstudium für Pionierleiter mit Lehrbefähigung in den Fächern Kunsterziehung und Sport für die Klassen eins bis vier. Ich arbeitete seit zwei Jahren in der Bezirksleitung der Pionierorganisation als Instrukteur. Als diese Leitung in der FDJ Organisation auf oder unterging, wurde ich umverteilt. Für mich zählte die Arbeit mit Kindern und ich weigerte mich als Instrukteur beim Jugendverband eingesetzt zu werden, und so landete oder strandete ich auf der Peißnitz im Pionierhaus. Ins kalte Wasser geschmissen, musste ich schwimmen lernen um nicht unter zu gehen. Natürlich war ich neugierig auf den neuen Arbeitsbereich und willig etwas zu leisten und zu bewegen.

Langer Weg zur Arbeit

Es war am 01.07.1966. Die Sommerferien hatten begonnen, und auch mein erster Arbeitstag im Pionierhaus. Ich wohnte in einem eingemeindeten Dorf hinter Merseburg. Um zur Peißnitz zu gelangen musste ich früh aufstehen. Mein Weg zur Arbeit wie folgt!:          
Zur Straßenbahnhaltestelle in meinem Dorf, mit der Straßenbahn nach Merseburg Endstation „Hölle“, zum Bahnhof in Merseburg und von Merseburg nach Halle mit dem Zug, vom Hauptbahnhof zum Thälmannplatz. Der Thälmannplatz war eine riesige Baustelle, hier war man dabei, die Hochstraße zu bauen. Da gab es Straßenbahnumleitungen, Fahrplanänderungen und Straßenbahnausfälle. Ich musste mit der Straßenbahn Richtung Reileck und  in der Bernburger Straße in die Linie neun umsteigen, die über den Volkspark in Richtung Kröllwitz fuhr. Das Glück, Anschluss zu haben, war eher selten und meistens ging ich zu Fuß. Zwei bis drei Stunden gingen da drauf.
Aber es war ja Sommer, ich war jung und hatte Flügel!

1968: Frau Hohmann mit Kindern im PionierhausDas Pionierhaus war aufwendig renoviert worden. Die Wände strahlten in weißer Sauberkeit. Es roch nach frischer Farbe. Wir putzten Fenster spachtelten Farbspritzer und beseitigten Farbeimer. Ich packte gleich mit an und das machte meinen Start praktisch und locker. Schwer waren nur die Möbel die wir schleppten. Ich kann mich nicht erinnern, was zu meinem konkreten Aufgabenbereich gehörte. Meistens war der Hausleiter unterwegs. Er unterrichtete in mehreren Oberschulklassen, eilte von Sitzung zu Sitzung und in  den Sommerferien war er mit den Bezirkspionierräten in Friedrichsbrunn, in Bad Schmiedefeld, einem Bezirkspionierlager, in der Pionierrepublik am Werbellinsee oder irgendwo anders.
Die täglich anfallenden Probleme kamen auf mich zu und mussten gelöst werden. Die Pädagogischen Abteilungen kannten ihre Arbeit und machten sie, was ich nicht kontrollieren musste und auch nicht wollte. Das Klima war gut, jeder half, wenn er gebraucht wurde. Das Hausmeisterehepaar stand mir mit Rat und Tat zur Seite. Sie wohnten im Haus und waren mit ihm verwachsen.

Inzwischen waren Herbstferien und meine Schwangerschaft offensichtlich. Ich weiß noch, wie ich mich immer schützend an die Wand drückte, wenn eine Herde Kinder durch das Haus raste und rempelte.
An einem Wochenende, ich hatte Bereitschaftsdienst, wurde ich telefonisch angewiesen, eine Delegation italienischer Genossen der IKP zu empfangen. Ich sollte sie über die Funktionsweise und das Anliegen des Hauses informieren. Sie waren ehrlich überrascht welche Möglichkeiten die Kinder hatten, hier ihre Freizeit zu gestalten. Ich fuhr mit den Gästen mit der Pioniereisenbahn und das gefiel ihnen ohne Frage. Worüber sie erstaunt waren, war die Tatsache, dass ich so jung war und so eine Aufgabe hatte. Blond, schwanger aber nicht blöd! Worüber ich mich wunderte, war, dass die Delegation aus nur einem Ehepaar bestand, das mich wahrscheinlich nur testen, bzw. bespitzeln sollte. Wir befanden uns schließlich in den Sechzigern, im kalten Krieg, und ich hatte Westverwandtschaft.

Ein Zimmer im Dach

Ich bekam mein Kind und somit eine längere Pause vom Geschehen. Mir war es die ganze Zeit nicht gelungen, eine Wohnung in Halle zu bekommen, da ich bei meinen Eltern im Eigenheim wohnte. Ich hatte somit kein Anrecht auf eine Wohnung und somit auch nicht auf einen Krippenplatz, da ich nicht in Halle wohnte. Ich konnte mich drehen wie ich wollte, ich biss mich immer in den Schwanz. Inzwischen war mein Schwangerschaftsurlaub vorüber. Ich hing den Jahresurlaub noch dran und dann war das Ende der Fahnenstange erreicht. Was mir zustand, war nur noch das staatliche Kindergeld das betrug, sofern ich mich rechte erinnere dreißig oder vierzig Mark. Mein Freund weigerte sich Alimente zu zahlen und hatte mich längst verlassen. Ich befand mich in einem ernsthaften Dilemma.
Schließlich ergriffen meine Kollegen die Initiative.
Im Pionierhaus gab es einen Raum der zum Boden und zum Turmaufstieg führte. In diesem Raum wurden ausrangierte Sportgeräte gelagert. Sie renovierten mir das Zimmer, teilten ein kleines Stück vom Boden ab, legten Strom und Wasser und ich hatte eine kleine Küche. Auf dem elektrischen Kocher stand meistens der Windeltopf. Im Bodenraum hängte ich die Wäsche auf. Das Pionierhaus hatte Zentralheizung die der Hausmeister versorgte. Ich hatte es immer schön warm, die Wärme steigt bekanntlich nach oben.
Ein Luxus für mich. Zu Hause in meinem Elternhaus hatte ich nicht mal Anrecht auf eine Kohlenkarte. Wenn ich durch das Fenster meiner kleinen Einraumwohnung schaute konnte ich den Himmel sehen und das Geäst der Bäume in der die Morgensonne hing. Ich war meinen Kollegen unendlich dankbar für diese Initiative.

Es war wieder Sommer. Ich hatte eine Wohnung und mein Kind bei mir am Arbeitsplatz. Ich war froh und glücklich. Das Hausmeisterehepaar teilte sich auch den Pförtnerdienst. Es wurde Buch geführt, wer das Haus wann betrat und wieder verließ. Der Kinderwagen stand auf der Terrasse, immer mit einer Gardine verhangen wegen der Fliegen und Wespen und immer im Blickfeld der Pförtner. Irgendwer schob den Wagen hin und her, wenn das Kind weinte und ich nicht gleich zur Stelle war. Zwischendurch versorgte ich mein kleines Baby in der Turmwohnung. So war die Situation für drei Monate.
Es waren wieder Sommerferien. Die Sekretärin hatte Urlaub, der Buchhalter war entlassen worden, weil er, so sagte der Hausleiter, zu geizig war, was eigentlich hieß, zu gewissenhaft. Mir wurde ein Wochenkrippenplatz angeboten. Ich lehnte wütend ab. Da binde ich mir mein Kind doch lieber auf den Rücken. Dennoch musste eine Lösung gefunden werden.  
Manchmal geht das Schicksal seltsame Wege. Meine Mutter ging nicht mehr arbeiten da mein Vater schwer erkrankt war. Sie kümmerte sich mit meiner jüngsten Schwester um mein Baby in meinem Elternhaus und ich pendelte wieder mit den Verkehrsmitteln hin und her.

Ein Vogelzoo

Der nächste Befehl von oben, eine Kategorie Vögel und Fische von einer Halle-Neustädter Schule  zu übernehmen und im Haus unterzubringen, war schon ein bisschen heftig. Es wäre sinnvoller gewesen, die Tiere dem Zoo zu schenken, aber mein Vorschlag fand keine Resonanz. Es war Eile geboten, denn es begannen die Schulferien und die Tiere mussten raus aus dem Keller der angeblich feucht war. Wahrscheinlich hatte sich die AG Zootechnik aufgelöst, wie auch immer, Befehl ist Befehl, da gab es keine demokratischen Debatten. Ich besprach mich mit dem Hausmeister und der machte den Vorschlag einen kleinen Baum zu fällen und in eine der Kolonnade zu stellen. Als alles vorbereitet war, löste sich meine Spannung. Am Nachmittag wurden mehrere Käfige mit bunten Papageien herangefahren. Wir ließen sie in der Kolonnade frei. Die verwirrten Vögel flatterten durcheinander und machten ein Riesengeschrei. Nach zwei Tagen hatten sie sich an ihren schönen großen Käfig gewöhnt, aber ein Zustand war das keinesfalls.
Morgens und abends wurden sie von uns gefüttert. Die Viecher flogen mir um die Ohren, setzten sich auf meine Schultern und es war jedes Mal ein Kunststück ohne Vogel im Nacken ins Freie zu gelangen.
Außer den Vögeln übernahmen wir noch ein Terrarium und mehrere Aquarien. Unter den angelieferten Tieren befand sich auch ein „Wanderaal“. Der ging nachts wandern und wir suchten ihn am nächsten Tag, bis wir ihn wiederfanden. Das machte der Sohn vom Hausmeister professionell.
In den Sommerferien waren die meisten Kollegen unterwegs. Manche in Ferienlagern, manche mit den eigenen Kindern im Urlaub, der Hausleiter mit Bezirkspionierräten unterwegs. Er hatte angeordnet, das Haus ruhen zu lassen. Also verwalten und nicht gestalten! Das war meine Aufgabe! Funktionierte nicht! Ich wurde angewiesen, eine Gruppe Pioniere aufzunehmen, die an der Schacholympiade des Bezirkes teilnehmen sollten. Ich wusste nicht, wer das anordnete. Vielleicht war es ja auch abgesprochen und vergessen worden. Also ein Schlaflager für fünfzehn oder mehr Teilnehmer. Es wurden Matten und Schlafsäcke angeliefert, Frühstück machten wir im Haus. Eine Mitarbeiterin stand zur Verfügung und es ist alles gelaufen wie im Sozialismus.
Das Pionierschiff zum Laternenfest
Die Krönung meiner Hausleitertätigkeit war die Ausgestaltung des Pionierschiffes anlässlich des Laternenfestes. Eigentlich sollte das Schiff an Land liegen, so lautete die Anordnung des Hausleiters. Der Kapitän machte aber ein Riesenspektakel und drohte mit Kündigung, falls er, der Tradition gemäß, nicht im Defilee mitfahren dürfe.
Ich entschied entgegen der Anweisung von oben: das Schiff fährt mit und basta!
Ich bastelte mit meiner Schwester Girlanden und Krepppapierschmuck um das Schiff schön zu machen. Zum gleichen Zeitpunkt hatten wir eine Gruppe von etwa zehn französischen Kindern zu Besuch. Meine Idee, die Kinder auf das  obere Dach des Schiffes mit brennenden Fackeln in der Hand zu stellen, gefiel dem Kapitän. Also mit Einbruch der Dunkelheit fuhr das Schiff am Weineckufer entlang und die französischen Kinder wurden vorgeführt. Sie sangen die Marsseillaise und winkten begeistert mit ihren brennenden Fackeln in der Hand. Ich stand unten im Schiffsraum und schwitzte Blut und Wasser. Ein Glück, es ist niemand in die Saale gefallen und niemand hat sich verbrannt! Wir bekamen für die Ausstattung einen ersten Preis. Der Kapitän strahlte und ich war fix und fertig.

Rede vor russischen Kindern

Eine andere Erinnerung ist mir heute noch peinlich.
Es war an einem Wochenende, ich hatte Bereitschaftsdienst. Ich sortierte meinen Schreibtisch als das Telefon klingelte. Eine Mitarbeiterin meldete sich und erklärte mir, dass sie die Rede auf dem morgigen Empfang in der Sowjetischen Garnison nicht halten könne, da sie krank sei. Sie bat mich, sie zu vertreten. Das wollte ich auf keinen Fall tun und ich bat sie, das mit dem Leiter des Hauses zu klären. Das hatte sie angeblich schon versucht, sie konnte ihn aber nicht erreichen. Leiten heißt auch weiterleiten! Ich erreichte den Leiter leider auch nicht. Es gab leider noch keine Handys und keine e-mails, und wer einen privaten Telefonanschluss hatte galt als privilegiert. Ich musste eine Entscheidung treffen.  Die Mitarbeiterin war krank und ich wäre in dem Moment am liebsten tot vom Stuhl gefallen. Durfte ich die Sache dem Selbstlauf überlassen? Mein Pflichtbewusstsein siegte.
Am nächsten Tag suchte ich die Kaserne in der Heide. Als ich sie nach langem Suchen endlich gefunden hatte, wurde ich in den Festsaal geführt. Die Aula war voll besetzt. Hier warteten mindestens hundert russische Kinder mit ihren Lehrern. Sie saßen erwartungsvoll auf ihren Stühlen. In ihrer dunkelblauen Schulkleidung mit leuchtend roten Halstüchern, die Mädchen mit üppigen Schleifen in den straff gebundenen Zöpfen verbreiteten sie eine feierliche Atmosphäre. Ein Mädchen spielte wunderschön Klavier, dann tanzten kleine Kosaken „Kalinka“ und eine Dame hielt eine Rede in russischer Sprache.

Außer dem Pioniergruß verstand ich kein Wort. Meine Aufregung war auch viel zu groß um irgendetwas zu verstehen, aber es gab kein Zurück. Als ich dann meine Rede in deutscher Sprache vom Zettel ablas und die feierlichen Grüße anlässlich der Oktoberrevolution übermittelte, zitterten mir die Knie und ich wäre am liebsten in den Boden versunken.
Ich habe auch nicht verstanden, was die Rednerin danach erzählte. Ich konnte auch das Lied in russischer Sprache nicht singen. Mein Gesicht brannte und war so rot wie die Halstücher der sowjetischen Pioniere.  
In den Sommerferien machte ich Märchenstunden mit Rollfilmen und bereitete Feste und Veranstaltungen vor, die ich dann auch durchführte und moderierte.  
Ich leitete eine Arbeitsgemeinschaft die im Briefwechsel mit sowjetischen Pionieren stand, (was wohl eine Folge meines unseligen Auftrittes in der Garnison gewesen war). Wir bekamen unendlich viel Post aus der Ukraine, aus Kasachstan, Moskau, Wladiwostok usw. Das war so das schwierigste an das ich mich erinnere. Meine Russischkenntnisse waren sehr mager. Das ist wohl niemand aufgefallen außer mir. Zu Beginn des neuen Schuljahres, bat ich um Entlastung von der Position als Stellvertretung des Hausleiters und arbeitete  fortan als Pädagogische Mitarbeiterin. Inzwischen hatten wir auch einen neuen Hausleiter.
Ich habe meinen Polterabend noch im Pionierhaus gefeiert und die zweite Schwangerschaft dort erlebt.
Fast jede Woche bin ich zur Wohnungsvergabestelle, zum Rat der Stadt, gegangen und habe dort viele Wartestunden verbracht. Nach der Geburt meines zweiten Kindes bekam ich eine Zweiraumwohnung mit Küchenbenutzung. Bad mit Toilette teilten wir uns mit noch zwei Familien, das war auch ein bisschen russisch.
Im Juni 1969 feierten wir den Kindertag auf der Peißnitz und das war das Ende meiner Tätigkeit im Haus der Pioniere.
Die Peißnitz ist fortan immer ein Ausflugsziel für unsere Familie geblieben.
Meine Kinder haben in dem Teich unter der Fontäne gebadet und Molche gefangen. Meine Enkelkinder, die heute in dem Alter sind wie ich damals, erzählen mir oft von dem neuen alten Haus, den Vorhaben des Vereins und den Veranstaltungen die dort stattfinden.
Da fällt mir noch ein Liedtext ein: “Aus der Enge dieser Tage brechen wir hervor und der rück gewandten Klage leih’n wir nicht das Ohr!  Unverwandt wir vorwärts schreiten Schritt um Schritt…“